Logo Deutscher Zahnärztetag Dr. Roland Garve (Lüneburg)
Dr. Roland Garve (Lüneburg)

Rituelle Deformierungen im Orofazialbereich bei Naturvölkern

Samstag, 10. November 2012
Zeit: 11:00-11:45 Uhr
Ort: Forum, Agenda
Ebene/Etage: 0

Wir leben im 21. Jahrhundert und dennoch existieren hinsichtlich der Maßstäbe für menschliche Schönheit im orofazialen Bereich – besonders an den Zähnen – immer noch himmelweite Unterschiede zwischen den verschiedenen Völkern. Die letzten Naturvölker der Erde nehmen dabei sogar eine Sonderstellung ein.
In ihrer oftmals archaischen "Parallelwelt" ist unsere moderne westlich geprägte und gesundheitsorientierte Vorstellung von Zahnästhetik oftmals völlig bedeutungslos und nicht anwendbar. Es bestehen alte kulturelle Grenzen, die wir nicht so einfach überschreiten können und respektieren müssen. Schönheit wird dort ganz anders definiert.
Durch Globalisierung und zunehmende Migration kommen heutzutage immer mehr Menschen auch aus indigenen und anderen uns unbekannten Kulturkreisen mit ihren mythologischen und eigenen ästhetischen Vorstellungen und ethischen Normen nach Europa.
Der vor einigen Jahren in Europa bei jungen Leuten aufgekommenen Trend des Haut- und Zungenpiercings ist dagegen lediglich eine Modeerscheinung und eventuell als Symbol für Normverweigerung zu werten.
Rituelle Deformierungen bei Naturvölkern geben nicht nur Auskunft über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm oder einem Clan, sondern auch über die Stellung und den Rang des einzelnen in der Gemeinschaft, über sein Geschlecht, sein Alter, seine Aufgabe oder aber auch beispielsweise welche Phase der Initiation er bereits durchlaufen hat.
Ich halte es daher für wichtig, dass Medizinstudenten in ihrer Ausbildung auch damit konfrontiert werden.
Obwohl es sich aus europäischer Sicht eigentlich um Verstümmelungen handelt, die unserem medizinischen Ethos widersprechen, sind sie als Symbol für die Stammeszugehörigkeit sehr wichtig. Dazu gehören unter anderem verschiedene rituelle Deformationsformen des Gebisses (Zuspitzung, Abrundung oder Amputation der Zahnkronen, Zacken oder Lückenfeilung, Einschleifen von Mustern oder Dellen, Farbfeilungen, Schwarzfärben der Frontzähne, Ausbrechen einzelner Zähne, Verdrängen der Zähne aus ihrer Stellung, Metall- und Steineinlagen).
Auch im Gesicht und der Kopf-Hals-Region werden massive Manipulationen zwecks Verschönerung, optischer Verstärkung von bestimmten Eigenschaften oder Verdeutlichung von Schmerzunempfindlichkeit vorgenommen. Als Beispiele dafür sind Holzpflöcke im Unterkiefer bei isolierten Amazonasindianern, gigantische Lippenteller bei den Surma in Äthiopien und schwere Halsspiralen aus Messing bei den Padaung in Burma zu nennen.
 
 
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