Evidenz und Twitter: Auswirkungen auf kritisches Denken in der (Zahn-)Medizin

Die systematische Einbeziehung von Wissen aus klinischen Studien ist ein Eckpfeiler der evidenzbasierten Medizin. Damit dieser Rückgriff auf externe Evidenz - Evidenzbasierung also – funktionieren kann, muss jede Komponente eines komplexen Prozesses von der Erkenntnis bis hin zur Anwendung funktionieren, damit die Anwendung von Wissen nicht auf einer systematisch verzerrten Basis erfolgt. Die systematische Suche nach Studien aufgrund wohl formulierter Fragestellungen, die Qualitätsbewertung, die Synthese der hochwertigen Studien, die Zusammenführung und Verdichtung des Studienwissens in Evidenzberichten oder klinischen Leitlinien, die Dissemination hin zum Anwender und Anwendungsort und nicht zuletzt die richtige Anwendung am Patienten oder bei Systementscheidungen sind Teile einer Kette, in der jedes Glied seinen Teil beitragen muss. Diese Komponenten werden durch die Arbeit der letzten 20 Jahre immer besser verstanden und kontinuierlich verbessert. Gleichzeitig behindern mächtige Barrieren diese Entwicklung, wie tausende von methodischen Arbeiten der letzten zwei Jahrzehnte zeigen. Eine Reihe von bildhaften Begriffen kennzeichnet die Bestrebungen, wissenschaftliche Grundlagen und deren Implementierung in die Entscheidungen des Alltags näher zueinander zu bringen. Einer der treffendsten Begriffe ist Knowledge Translation, der in Nordamerika und speziell in Kanada eine feste Größe ist.
Der mächtigste Feind von Wissenschaftlichkeit ist der Glaube. In der Gesundheitsversorgung wird eine überwältigende Zahl von Entscheidungen als reine Bauchentscheidungen gefällt. Während man den Mangel an Rationalität eher auf der Patientenseite vermuten würde, zeigen viele Arbeiten, dass dieser Mangel auch im professionellen Umfeld weit verbreitet ist. Die Entwicklung von glaubensbasierten Sichtweisen und Entscheidungsgrundlagen hat in den letzten Jahren einen neuen, sehr effizienten Partner bekommen. Soziale Netzwerke auf der Basis neuer Kommunikationstechnologien wie Twitter und Facebook erlauben den extrem schnellen Austausch von Information. Dabei ist weder klar, wie und durch wen die Information entsteht, wie und über wen sie sich verteilt und was sie beim Empfänger verursacht.
Diese Welt mit ihren elektronischen Wolken und sozialen Netzwerken hat begonnen, unsere Informationsaufnahme und Kommunikation zu revolutionieren. Das dort herrschende organisierte Chaos steht in diametralem Gegensatz zu dem rigiden Regelwerk, mit dem in den Modellen der evidenzbasierten Medizin Wissen generiert und implementiert wird. Welche Auswirkungen diese Entwicklung auf den informierten Patienten und die partizipative Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient hat, ist nicht abzuschätzen, sondern wird durch die Zukunft beantwortet. Das Potential ist riesig, die Gefahren auch.

Freitag, 12. November 2010
Zeit: 14:00-14:45 Uhr
Ort: Forum, Substanz
Ebene/Etage: C
Dr. Gerd Antes

Dr. Gerd Antes 
 
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